Demokratie, der mühsame Königsweg

Ich durfte im Rahmen der Reihe „Berner Spuren Suche“ organisiert von der christkatholischen Kirche Bern, wunderbar eingestimmt mit Daniel Woodtli (Trompete) und Bernhard Gigers Einleitung am 16. Mai mit einer Denkpause zum Thema Demokratie in der Kirche St. Peter und Paul reden. Entstanden ist folgender Text:

In der 5. Klasse, ich war 10 Jahre alt, mussten wir ein Tagebuch führen und für uns wichtige Ereignisse festhalten. Mein Lieblingseintrag – ich habe mir dafür wirklich grosse Mühe gegeben mit dem Text und inklusive Bildcollage – galt den Ereignissen vom 9. November 1989. Titel: Der Mauerfall. Auf der Collage waren Menschen zu sehen, die ihre Angst vor Unterdrückung überwanden, sich gegen das politische System auflehnten und auf der Mauer standen. Ich sah mutige Menschen die Freiheit wollten, die sich einbringen, mitreden, mitentscheiden wollten. Je älter ich wurde, desto besser konnte ich dieses Ereignis und seine Bedeutung einordnen: Frauen und Männer haben für Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit auf der Strasse protestiert und mit ihrer friedlichen Revolution eine Wiedervereinigung herbeigeführt. Eine friedliche Demokratisierungswelle rollte über Osteuropa, der Kalte Krieg war zu Ende und Gorbatschow erhielt den Friedensnobelpreis.

Ich gehöre einer Generation an, welche mit dem Siegeszug der Demokratie aufgewachsen ist. Alles schien sich zum Guten zu wenden. Wir dachten, die Demokratie werde sich wie ein Naturgesetz als politische Gesellschaftsform durchsetzen. Offensichtlich war da aber auch viel Wunschdenken mit dabei. In den letzten Jahren wurde das immer klarer: Gewissheiten gerieten mit jedem neuen autokratischen Führer mehr und mehr ins Wanken, die Finanzkrise offenbarte, dass auch Demokratien nicht in der Lage sind, Schaden von der Bevölkerung fernzuhalten. Selbstverständlichkeiten wie Friede, Wohlstand oder Gesundheit, bröckelten. Es kam eine Epidemie, wir haben wieder Krieg in Europa, und schon wieder ist eine systemrelevante Bank «too big to fail». Vermeintliche Gewissheiten unseres westlichen Lebens, unserer Zeit, gelten nicht mehr.

Unsere Art des Zusammenlebens, wie wir unser Leben organisieren, unser politisches System wird ganz offen von autokratischen Staaten in- und ausserhalb Europas herausgefordert. Die Demokratie, wie wir sie kennen, wird in Frage gestellt. Aber nicht nur von konkurrierenden Systemen, sondern auch aus dem Innern der Demokratien heraus. Die USA, als älteste Demokratie der Welt, haben die Präsidentschaftswahlen und den darauffolgenden Sturm auf das Capitol nur knapp unbeschadet überstanden. Nur wenig später exakt das gleiche Bild in Südamerika und deren grösster Demokratie Brasilien: Ein amtierender Präsident, der die Niederlage nicht eingesteht und ein Sturm auf das Regierungsgebäude provoziert. Und es ist durchaus möglich, dass der Wahnsinn mit Trump in den USA 2024 zurückkehrt.

Aber was ist denn überhaupt in Gefahr? Was verstehen wir unter Demokratie?

Demokratie ist eine Staatsform, ein politisches System, in dem der Demos, das heisst das Volk oder die Bevölkerung das Sagen hat. Nicht Könige oder Philosophen bestimmen die Regeln des Zusammenlebens, sondern die Bevölkerung selbst. Indem sie Abgeordnete wählt, die im Mandat und für die Bevölkerung Gesetze erlässt. In den Worten von Abraham Lincoln ausgedrückt: «Government of the people, by the people, for the people».

Alexis de Tocqueville befürchtete noch, Demokratien werden zur Tyrannei der Mehrheit führen. Moderne Demokratien haben es jedoch verstanden, dieser Tendenz entgegenzuwirken, sich selber einzuschränken. Genauso wichtig für eine Demokratie, neben der Ermächtigung der Bevölkerung, ist eben auch das Verständnis, dass das Volk aus unterschiedlichen Gruppen besteht, aus Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten, Religionen und Interessen. Die alle gehört werden sollen und müssen, aber eben auch Rücksichtnahme erfordern. Deshalb gehören zu einer Demokratie auch garantierte Grundrechte, Minderheitenschutz und Minderheitenbeteiligungen,

Gewaltenteilung und unabhängige Gerichte, Rechtsstaatlichkeit – und es ist eben elementar, dass sich alle Bevölkerungsgruppen einbringen können.

Moderne Demokratien sind nicht perfekt. Auch unsere spezielle direkte Demokratie nicht. Bei weitem nicht. Sie war 123 Jahre lang unvollständig, ja halbbatzig. Nämlich bis 1971 zur Einführung des Frauenstimmrechts. Und wie ist es heute? Viele Menschen beteiligen sich kaum oder gar nicht an Wahlen und Abstimmungen. Geld spielt eine grosse Rolle in der Politik. Nicht alle haben gleich viel Mitsprache, andere sind ganz ausgeschlossen. Ein Fünftel unserer Bevölkerung, darf aufgrund ihres Passes nicht partizipieren. Demokratien sind zwar wandlungsfähig, aber dieser Wandel erfordert eben gerade auch bei uns einen langen Atem und Geduld.

Demokratien können sich auch zum Schlechteren entwickeln, sie sind fragil. Demokratien können sich selbst abschaffen. Das passierte mal in Deutschland – und Kriege folgten. Das passierte in Russland – und Kriege folgten. Demokratien können zu autokratischen Regimen mutieren, das muss uns kümmern – und ist die entscheidende Lektion, welche meine Generation lernen musste: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sie ist nie fertig, sondern muss immer wieder aufs Neue verteidigt, gelebt und weiterentwickelt werden.

Immanuel Kant hat festgestellt, dass Frieden kein natürlicher Zustand zwischen Menschen ist. Frieden müsse gestiftet und abgesichert werden und das sei Sache der Politik. Und weil Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen, sind sie der Königsweg zu einer friedlicheren Welt. Dieser Weg setzt das Gegenteil von Gleichgültigkeit voraus, nämlich Mitgefühl. Mitgefühl, um über drei Milliarden von Menschen, die in autokratischen Systemen leben. Die nicht mitbestimmen können, wie sie leben möchten, wie sie ihr Zusammenleben organisieren möchten. Die ausgeliefert und ohnmächtig sind. Die von einem Machtapparat überwacht und kontrolliert werden.

Die als Opposition oder Verräter verfolgt, gefoltert und gefangen gehalten werden. Milliarden von Menschen werden ihrem Recht der Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und der Freiheit beraubt. Das Mitgefühl mit Menschen die Freiheit und Mitsprache wollen, hat mich als 10-Jährige beschäftigt – und 30 Jahre später hat es mich zu einer Geste der Solidarität bewegt. Im Iran werden Menschen im Kampf für Freiheit und Menschenrechte getötet – Mitgefühl reicht nicht. Es müssen zivilgesellschaftliche und politische Taten folgen. Die Übernahme von Sanktionen, die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen vor Ort, aktives Einsetzen für eine UNO-Menschrechtsmission. Wir können und müssen mehr tun. Es muss uns kümmern, weil wir schlicht Glück haben, in einer Demokratie zu leben. Hier wird keine Frau getötet, wenn sie ihre Haare nicht bedeckt.

Auch bei uns in der Schweiz, müssen wir der Demokratie Sorge tragen. Sie ist eben nicht selbstverständlich. Aber was heisst, der Demokratie Sorge tragen, Demokratie leben?

Demokratie ist auch mühsam, anstrengend. Demokratie ist manchmal auch eine Zumutung. Demokratie erwartet von uns, dass wir uns engagieren. Dass wir abstimmen und wählen, dass wir einer Partei beitreten, dass wir kandidieren für ein öffentliches Amt. Dass wir regieren und regiert werden. Dass wir heute in der Mehrheit sind, und morgen in der Minderheit. Demokratie erwartet von uns, dass wir zuhören, dass wir mitdenken, mitreden, manchmal streiten. Uns aber immer wieder versöhnen. Respekt voreinander haben. Verstehen, dass es unterschiedliche Lebensrealitäten und Entwürfe gibt. Demokratie erwartet von uns, dass wir immer weiter machen. Demokratie muss auch mit dummen Ideen umgehen können. Und das kann sie. Gerade auch bei uns in der Schweiz.

In keinem anderen Land dieser Welt konnte über die Corona-Politik abgestimmt werden. Das war befriedend und stabilisierend für unsere Gesellschaft im Umgang mit Verschwörerinnen und Covid-Leugnern. Wir können am 18. Juni über das Klimaschutzgesetz abstimmen – das können Klima-Aktivistinnen in keinem anderen Land.

Demokratie bleibt die beste Form aller Systeme. Wir müssen sie aber eben auch verteidigen und weiterentwickeln. Und dürfen deshalb nie die Hände in den Schoss legen. Diese Lektion haben wir in den letzten Jahren gelernt. Sowohl die Entwicklung zu mehr Demokratie, aber auch das Verteidigen von selbstverständlich geglaubten Werten, verträgt keine Passivität. Verträgt kein Wegschauen, kein Stillschweigen. Verträgt keine Ignoranz oder Gleichgültigkeit.

Und so wünsche ich mir heute von Herzen, dass meine Kinder nach ihren Tagebucheinträgen zur Covid-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine, bald Ereignisse erleben und festhalten können, die auf eine demokratischere und friedlichere Zukunft hoffen lassen.

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