Plädoyer für Widerspruchsfähigkeit und Widerspruchstoleranz

Eigentlich müssten wir mehr arbeiten. Denken wir.

Und gleichzeitig denken wir: Wir ordnen in der Schweiz der Arbeit zu viel unter.

Ein Widerspruch. Ist aber so.

Das hat eben eine Studie gezeigt.

  • Eine Mehrheit der Bevölkerung findet, dass wir in der Schweiz mehr arbeiten müssten, weil die Babyboomer in Pension gehen und es immer mehr an Fachkräften mangelt
  • Und in der gleichen Studie findet eine noch grössere Mehrheit, dass wir in der Schweiz eigentlich zu viel arbeiten.

Eine Mehrheit will Krippenplätze mehr subventionieren und die Individualbesteuerung einführen.

Beides würde mehr Frauen in die Erwerbsarbeit führen.

Gleichzeitig will eine Mehrheit die unbezahlte Betreuungsarbeit in der Familie finanziell entschädigen.

Das wiederum hält Frauen vom Erwerbsleben fern.

Ein Widerspruch.

Oder:

Kleine Unternehmen schätzen ältere Mitarbeitende als loyaler und verantwortungsbereiter, ja sogar auch als leistungsfähiger ein.

 

Dennoch gibt das durchschnittliche KMU an, keine Personen über 55 Jahren neu anzustellen.

Meine Damen und Herren

Das geht einfach nicht zusammen.

Und es gibt für uns Politikerinnen nichts Schöneres, als solche Widersprüche aufzudecken – bei den anderen.

  • Wir subventionieren den Tabakanbau in der Schweiz und wollen die hohe Raucherquote runterbringen.
  • Die hohen Gesundheitskosten beklagen und Massnahmen gegen hohe Generikapreise ablehnen.

Diese Widersprüche sind nur schwer auszuhalten. Und schon gar nicht aufzulösen.

Selber lebt man natürlich widerspruchsfrei.

Nein, natürlich nicht.

Das sehe ich zum Beispiel im Spiegel, den mir meine Kinder vorhalten. Warum ich sie zwinge einen Velohelm zu tragen, aber selber keinen auf dem Kopf habe?

Oft wollen wir etwas Neues, Frisches. Aber, es soll sich bitte nichts ändern.

Man mag keine langen Reden, lädt aber trotzdem eine Politikerin ein.

Viele regen sich auf über «die ds Bärn obe», wählen aber nicht.

Andere wiederum haben Salzmann und Wasserfallen auf den gleichen Zettel geschrieben.

Widersprüche gehören zu unserem Leben.

Wie sagte der Amerikanische Dichter Walt Whitman so schön:

 

Do I contradict myself?

Very well, then I contradict myself

Wir müssen lernen mit unseren Widersprüchen zu leben.

Widerspruchstoleranz zu entwickeln.

Mit Widersprüchen leben können heisst auch Komplexität auszuhalten. Vieldeutigkeit zu erkennen.

Gerade das scheint mir aber, geht verloren, in einer Welt,

  • in der die extremen Positionen Aufmerksamkeit erhalten.
  • 1 oder 0.
  • Schwarz oder weiss.
  • Gut oder böse

Es werden Schubladen gezogen, zur Erfassung der schnelllebigen, chaotischen und krisengeschüttelten Zeit. Und der Rückgang der Medienvielfalt und die Dominanz der sozialen Medien verstärken diese Kategorisierung zweifellos.

Meine Damen und Herren

Es freut mich sehr, hier bei Ihnen zu sprechen.

  • Bei der Preisverleihung des Berner Sozialsterns.
  • Weil es zeigt, wie widerspruchsfähig Sie sind. Als Unternehmerinnen, Job Coaches, Teilnehmende, Sponsoren.

Eine leistungsschwächere Person im ersten Arbeitsmarkt integrieren?

Sie alle halten diesen Widerspruch aus und kehren ihn ins Positive. Der Widerspruch hält sie nicht vom Handeln ab.

Und hier können wir von Ihnen lernen.

Sie gehen den unbequemen Weg, sie gehen neue Wege und integrieren Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in den Arbeitsmarkt. Nachhaltig. Sie schieben Kategorien oder Schubladen beiseite.

Als Unternehmerin, als Job Coach ermöglichen sie es Menschen Tritt zu fassen, gesehen zu werden.

Sie stiften Sinn nicht nur für die Teilnehmenden, sondern für das Unternehmen und die ganze Gesellschaft. Sie begleiten professionell und eben so lange wie nötig, damit aus zaghaften Schritten und Stolperern ein fester Tritt wird. Und das in Zeiten, wo alles schnell, sofort und picobello sein muss.

Ich darf solch berührende Geschichten von Menschen mitverfolgen als Vorstandsmitglied von Jobtimal, einem Verein, der über das Teillohnmodell und Begleitung, Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt integriert. Ein Mann hat seine Rückkehr ins Arbeitsleben nach einem Unfall als „neues Leben“ beschrieben. Er hat wieder gute Laune und keinen Stress mehr.

Bei Bioabi, das ich mitbegründet habe, liefern vier Menschen über die GEWA die Gemüsetaschen nach Hause. Sie identifizieren sich stark mit Bioabi und kennen viele Kundinnen und Kunden persönlich. Es berührt mich jedes Mal, wenn ich an einem Hofapéro beobachten kann, wie stolz sie das macht.

Reden wir also über diese Stars, über diese Sozialsterne. Diese Menschen und über die Unternehmen, die sie befähigen, den Platz im Arbeitsleben zu finden.

Das Job Coach Placement der UPD ist ein solcher Stern. Ihr Beitrag ist beeindruckend und ich bin sehr dankbar dafür.

  • Ich bin dankbar für Ihr Wirken für Menschen und die ganze Gesellschaft.
  • Ich bin dankbar, dass sich Unternehmen dieser Herausforderung stellen und das mit grosser Überzeugung, wie ich hier feststellen kann.

 

Meine Damen und Herren

 

Ich komme nochmals zurück zum berühmten Zitat von Whitman. Es hat noch eine dritte Zeile:

 

Do I contradict myself?

Very well, then I contradict myself,

(I am large, I contain multitudes.)

 

Niemand ist eindimensional. Wie haben verschiedene Facetten.

  • Wir sind fähig, verschiedene Seiten zu sehen.
  • Die Richtung auch mal zu ändern.
  • Wir entwickeln uns.

Wer widerspruchsfähig ist, ist kritikfähig. Kompromissfähig.

Und deshalb ist Widerspruchsfähigkeit auch ganz entscheidend. Nicht nur für jede und jeden von uns, sondern auch für unsere Gesellschaft. In der Politik.

In der Widerspruchsfähigkeit entstehen Kompromisse. Lösungen. Und diese Lösungen werden wir in der Politik finden müssen gegen den Fachkräftemangel, damit die Menschen von Renten und Löhnen leben können oder zur Stärkung der mentalen Gesundheit.

Ich schliesse mit einem Zitat von Franz Dodel, Berner Schriftsteller und Theologe. Seit 21 Jahren schreibt er an einem Endlosen Gedicht, das im Internet wächst und wächst. Und darin schreibt er über seinen eigenen Text ab Zeile 40794:

das Ganze bleibt rätselhaft

voller Widerspruch

was mich zuversichtlich stimmt

Ich danke Ihnen herzlich für die Zuversicht, die Sie den Menschen geben, die sie in die Arbeitswelt begleiten.

Für die Zuversicht, die sie uns allen geben.

 

Flavia Wasserfallen, Ständerätin BE

 

Referat vom 15. November anlässlich der Vergabe des Berner Sozialsterns 2023

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